Tiefe Schluchten und märchenhafte Wälder, historische Pfade und umwerfende Ausblicke: Montenegro überrascht seine Besucher jeden Tag aufs Neue. Erst recht, wenn man das Balkanland zu Fuß erkundet.
Tag 1 - Skandal im Kloster?
Linkerhand eine steile Felswand, rechterhand eine tiefe Schlucht. Und dazwischen unser Reisebus auf einer schmalen Straße, die sich die Berge hinaufschlängelt. Viele Tunnels sind ohne Licht und so knapp bemessen, dass unser Bus in der Mitte fahren muss, um nicht anzuecken.
Kurzum: Die Fahrt von der montenegrinischen Hauptstadt Podgarica zum Wintersportort Kolasin ist ein Abenteuer - für den Fahrer genauso wie für die Gäste. Je höher man kommt, desto grandioser die Ausblicke auf die nahe und ferne Bergwelt - und desto schwindelerregender die Blicke hinab in die Moraca-Schlucht. Man könnte die Strecke inzwischen auch deutlich schneller und bequemer absolvieren, seitdem die Chinesen eine Autobahn durchs Gebirge geschlagen haben. Aber eigentlich besteht kein Grund zur Eile. Im Gegenteil: Unterwegs bleibt noch Zeit für einen Stopp am Moraca-Kloster. Es wurde im 13. Jahrhundert errichtet und soll eines der ältesten Gebäude des Landes sein. Die beiden Kirchen und die umliegenden Gebäude sind vorbildlich restauriert. Fresken bedecken die Wände von oben bis unten - eine Augenweide.
Unser Tipp: Treten Sie in der Hauptkirche ganz nah an den mit einer Kordel abgesperrten Bereich und schauen nach oben. In der Kuppel werden Sie einen Reigen halb entblößter Mädchen entdecken. Ein Skandal im Kloster? Die Wächterin lächelt und schüttelt den Kopf. Nein, das sei eine besondere Darstellungsform von Engeln, die sich um Jesus Christus scharen.
Tag 2 - Zum „Tor der Wünsche“
Rechterhand eine steile Felswand, linkerhand der Abgrund: Jaja, das hatten wir gestern schon, nur seitenverkehrt. Heute erkunden wir ein Seitental der Moraca zu Fuß: die Mrtvica-Schlucht. Ein Zungenbrecher und vielleicht auch deshalb noch ein Geheimtipp im an Schluchten weiß Gott nicht armen Montenegro. Der Wanderweg führt uns zunächst entlang des Flusses Mrtvica bis zu einer gemauerten Brücke. Ein schönes Fotomotiv und ein schöner Rastplatz obendrein.
Dann geht es auf abenteuerlichem Pfad, über Stock und Stein, steil nach oben und wieder auf breitem Weg immer tiefer in die Schlucht. Das Rauschen der Mrtvica ist unser ständiger Begleiter. Schließlich tauchen wir ein in einen Märchenwald. Bäume mit knorrigen Ästen und von oben bis unten mit zotteligem Moos überwuchert, dazwischen helle Felsbrocken aus Kalkstein - hier muss der Waldgeist zu Hause sein. Ein Schild zeigt an, dass wir unser Tagesziel erreicht haben: das "Tor der Wünsche". Die Natur hat hier eine steinerne Brücke geformt, durch die man hinab ins Tal schauen kann. Wer einen Stein hindurch in den Fluss wirft, darf darauf hoffen, dass sein geheimer Wunsch in Erfüllung geht. Klar, diese Gelegenheit lässt sich niemand entgehen. (10,2 km/200 Hm)
Unser Tipp: Unterwegs schon mal ein schönes Steinchen einsammeln. Am Tor sind - verständlicherweise - nur mit Mühe noch welche zu finden.
Tag 3 - Wandern ohne Wanderkarte
Wann wird's mal wieder richtig Winter? In Kolasin hat man die Hoffnung noch nicht aufgeben. Obwohl es schon zwei Winter in Folge nicht mehr richtig geschneit hat, wird hier auf Teufel komm raus gebaut. Auf der kurzen Fahrt vom Hotel zum Skizentrum auf 1.600 Metern Höhe passieren wir etwa ein Dutzend Baustellen. Alle sollen künftig als Hotels oder Appartements Wintersportgäste beherbergen.
Kolasin ist einer der bedeutendsten Wintersportorte in Montenegro, außerhalb der Saison jedoch eher ein verschlafenes Nest. Im Skizentrum, am Fuße des Vrh Troglava, gibt es nur einen Plan mit den Skipisten. Wanderkarten? Fehlanzeige. "Die Montenegriner gehen nicht wandern", sagt Reiseleiter Darko. Die Franzosen schauen sich die Berge aus dem Bus an, die Israelis kurven in Jeeps durch den Nationalpark Biogradska Gora. Nur die Deutschen erklimmen die Gipfel zu Fuß. Also wir.
Okay, etwas Bequemlichkeit darf schon sein. Der Skilift erspart uns 435 Höhenmeter und vor allem Zeit. Oben genießen wir erst mal das umwerfende Panorama. Es begleitet uns während der gesamten Wanderung rund um die Zekova Glava (2.122 m – der Gipfel ist militärisches Sperrgebiet). Wir blicken wir hinab auf einen Gletschersee, pflücken Heidelbeeren und beobachten Tausendfüßler, überqueren einen "Steinfluss" (eine riesige Felslawine) und tauchen ein in einen bunten Herbstwald, bis wir nach reichlich vier Stunden wieder die Bergstation des Sesselliftes erreichen. (10,2 km/400 hm)
Unser Tipp: Bestellen Sie in der Gaststätte an der Talstation eine Heiße Schokolade - und Sie bekommen ein heißes, dunkelbraunes Getränk, dessen Konsistenz sehr stark an flüssigen Pudding erinnert. Lecker!
Tag 4 - Titos Gebirgsbahn
Es ruckelt und schuckelt, es knarrt und quietscht. Dieser Zug ist wahrhaft kein ICE - und trotzdem beliebt und begehrt. Wer eine Reise nach Montenegro unternimmt, sollte unbedingt einmal mit Titos Gebirgsbahn fahren. So heißt die Strecke, die die serbische Hauptstadt Belgrad mit der montenegrinischen Hafenstadt Bar verbindet. 476 Kilometer, von den wir immerhin die letzten 115 erleben. Und was für ein Erlebnis!
Kaum haben wir den Bahnhof in Kolasin verlassen, wird es auch schon dunkel. Es ist der erste von 74 Tunneln, die wir durchfahren werden, und einer von 254 entlang der gesamten Strecke. Dann wird es hell, und ein schöner Blick auf bewaldete Hügel tut sich auf. Allerdings nur kurz – der nächste Tunnel ist schon erreicht. So geht es in einem fort. Die Tunnel sind mal kurz und mal länger, die Landschaft ändert sich dagegen dramatisch. Die Berge gegenüber werden immer felsiger, die Schlucht unter uns immer tiefer. Manchmal so tief, dass wir den Fluss Moraca ganz unten gar nicht mehr sehen.
25 Jahre hat der Bau der Zugverbindung gedauert – angesichts der abenteuerlichen Streckenführung durch drei Gebirgszüge nicht verwunderlich. Bald wurde auch das Geld knapp; mehrere Volksanleihen sicherten den Fortgang der Bauarbeiten. 1976 weihte der jugoslawische Staatspräsident Josip Broz Tito die Bahn schließlich ein. Bis heute ist sie für den Gütertransport von Bedeutung – und bei Touristen beliebt.
Unser Tipp: Wer mit der Gebirgsbahn in Richtung Bar fährt, sollte sich einen Fensterplatz auf der rechten Seite sichern. In der Gegenrichtung natürlich auf der linken.
Tag 5 - Besuch beim Dichterfürsten
Wussten Sie, dass die Montenegriner zu den größten Europäern gehören? 1,83 Meter, so die neuesten Messungen, ist ein Mann lang. Da können nur die Holländer mithalten.
Die Montenegriner sind aber nicht nur groß, sondern mitunter auch größenwahnsinnig. Oder wie soll man es sonst bezeichnen, wenn sich ein Herrscher ausgerechnet auf dem höchsten Gipfel weit und breit seine letzte Ruhestätte wünscht? Nun, vielleicht wollte Petar II. Petrovic Njegos auch einfach nur seine Ruhe da oben haben. Er war Fürst und Bischof in einer Person, ein Sprachgenie und der größte Dichter Montenegros. Njegos starb 1851. 14 Jahre später erfüllte man seinen Wunsch und errichtete auf dem Jezerski vrh (1.660 m) eine Grabkapelle. Jugoslawien setzte noch eins drauf und schenkte dem Dichterfürsten 1972 ein Mausoleum.
Abertausende Besucher pilgern alljährlich zu diesem Ort. Die allermeisten - wie wir - mit dem Reisebus, manche auch mit dem Fahrrad. Das letzte Stück müssen alle wohl oder übel zu Fuß bewältigen. 471 Stufen (unsere Zählung - ohne Garantie) führen durch einen Tunnel zu dem Mausoleum, vor dem zwei pharaonenähnliche Statuen wachen. Drinnen sitzt der Herrscher als überlebensgroße Statue; sein Sarkophag eine Etage tiefer wird von vielen Touristen glatt übersehen. Durchaus verständlich, wenn man erst mal den schmalen Durchgang entdeckt hat, der zu einer Aussichtsplattform führt. Hier liegt einem ganz Montenegro zu Füßen. Die alte Hauptstadt Cetinje und die neue Hauptstadt Podgorica, der Skutarisee und die Adria. Zum Greifen nah dagegen ein anderer Berg, den das Militär besetzt hat und der noch ein Stückchen höher ist als unser Standort. Wenn das der Dichterfürst gewusst hätte ...
Unser Tipp: Wer früh genug am Mausoleum ist, kann danach noch – wie wir – eine Wanderung zur Bucht von Kotor unternehmen (7,4 km/900 hm). Imposant ist vor allem die Stadtmauer. Ein Stück davon kann man auch gratis und in einer Viertelstunde ablaufen. Aufgänge befinden sich am Gurdic-Tor und hinterm Alten Rathaus.
Tag 6 - Der einarmige Mönch
Es war einmal ein russischer Gardeoffizier, der im Kampf um die Ehre seiner Tochter seinen linken Arm verlor. Kurz darauf verschwand auch seine Tochter. Jegor Stroganow, so sein Name machte sich auf die Suche nach Elisabeth und landete an der montenegrinischen Adriaküste, wurde im Kloster Praskvica aufgenommen und lebte fortan als Mönch. Als solcher erbaute er – allein und mit einer Hand, wohlgemerkt – einen drei Kilometer langen Weg hinauf in die Berge.
Das Ganze ist nun schon 200 Jahre her, aber den Weg gibt es immer noch. „Jegorov put“ steht auf dem Schild, „Jegors Pfad“. Es ist das letzte Stück unserer Wanderung, die im Dorf Brajici begann. Es ging vorbei an einer verfallenen Festung aus der Zeit der k.u.k.-Herrschaft, wir machten Rast vor einem hübschen Kirchlein und tauchten in einen dichten Laubwald ein. Bis wir von einer großen Terrasse hinab aufs Meer und die berühmte Insel Sveti Stefan schauten.
Hier erinnert eine Gedenktafel an den einarmigen Mönch, und hier endet (bzw. beginnt) Jegors Pfad. In unzähligen Kurven windet er sich etwa 200 Meter hinab, mit herrlichen Ausblicken und befestigt mit Steinen, von denen manche wie Holz aussehen. Russen sollen es gewesen sein, die den desolaten Weg aus Dankbarkeit an ihren Landsmann wieder hergerichtet haben. Das klingt plausibel: An der Küste haben sich viele Russen niedergelassen, viel Geld investiert – und die Preise nach oben getrieben, wie die Einheimischen beklagen. Montenegriner sind in der Touristenhochburg Budva inzwischen eine Minderheit. (13,3 km /215 hm)
Unser Tipp: Machen Sie Rast in Ogradenica vor der kleinen Kirche und werfen sie einen Blick hinein. Die Tür ist in der Regel nicht verschlossen.
Tag 7 - Eine Seefahrt, die ist lustig
Stopp! Dieses Wort sollte doch jeder Mensch verstehen. Nur dieser Montenegriner scheinbar nicht. Unbeirrt schüttet er meinen Plastikbecher bis zum Rand voll mit einer klaren Flüssigkeit, die verdammt stark nach Schnaps riecht. Schnapsbrennen sei in Montenegro legal und praktisch in jedem Haushalt üblich, sagt Reiseleiter Darko. Und wer ihn nicht selbst konsumiert, bewirtet damit seine Gäste. Oder Touristen. Stopp!!!
Wir schippern mit einem kleinen Schiff über den Skutarisee, den man sich eigentlich nicht schön trinken muss. Sauberes Wasser, Seerosen, Schilfinseln, ringsum kegelförmige Berge – man könnte sich auch irgendwo in China wähnen. Der Skutarisee – hier besser als Skadarsee bekannt – ist das größte Binnengewässer auf dem Balkan; zwei Drittel gehören zu Montenegro, ein Drittel zu Albanien. Beide Länder sorgen sich um seinen Schutz: Hier ist er Nationalpark, dort Naturreservat. Wir beobachten Reiher, Schwäne und Enten. Nur die Krauskopfpelikane, mit denen der Nationalpark wirbt, verstecken sich vor uns.
Dafür taucht der schankfreudige Herr – übrigens der Kapitän – schon wieder auf dem Oberdeck auf, diesmal mit einer Flasche Rotwein. Bloß gut, dass wir unsere heutige Wanderung (entlang des Flusses Rijeka Crnojevica zur Obod-Höhle; 4 km/90 hm) schon hinter uns haben!
Unser Tipp: Die Schiffsfahrt endet in der Regel in Virpazar. Dort steht eine restaurierte Festung, die eine gute Aussicht auf den See verspricht – aber nicht hält. Also lieber im Ort noch einen frischgepressten Granatapfelsaft trinken!
Fazit! Frage?
So viel Abwechslung erlebt man nur selten bei einer Wanderreise. Am Ende bleibt nur eine Frage: Warum wandern eigentlich die Montenegriner nicht?
Fotos & Text von Steffen Klameth
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